Grenzgänge mit Mari

Erschienen in: Frankfurter Rundschau, 04.10.2018, S. 20-21, Download als PDF hier.

Die georgische Schriftstellerin Mari Bekauri erzählt die Geschichten einer Generation, die ihre Ängste und Kriegstraumata in kreative Energie zu wandeln beginnt. Unsere Autorin hat sie in Tiflis besucht– und einiges über die Kraft der Hoffnung gelernt.
Von Inga Pylypchuk

Teil 1. Ergneti
Mari und ich sitzen nebeneinander im Reisebus. Er fährt uns nicht zum malerischen Kazbegi in die Berge, auch nicht nach Batumi an das Schwarze Meer. Er fährt in das letzte georgische Dorf vor der georgisch-südossetischen Grenze. Ergneti heißt es. Es liegt nur 110 Kilometer von der georgischen Hauptstadt Tiflis entfernt.
Eigentlich wollten Mari und ich etwas Nettes unternehmen. Wein trinken, tanzen gehen vielleicht. Aber ich war ausgerechnet Anfang August nach Tiflis gekommen und wir hatten uns für den 8. August, den Tag, an dem sich der georgisch-russische Krieg zum zehnten Mal jährt, verabredet. Als ich hörte, dass die in Tiflis ansässige Redaktion einer Kulturzeitschrift eine Reise nach Ergneti organisiert, schlug ich Mari vor, gemeinsam teilzunehmen.
„Inga! Ich liebe dich!“, antwortete sie und schickte im Messenger drei knallrote Herzen hinterher. Das war das erste Mal, dass mir jemand diese Worte schrieb, ohne dass wir uns je zuvor gesehen hätten.
Mari Bekauri ist Schriftstellerin. Sie ist 28 und sie gehört zu den Stimmen der neuen Generation Georgiens. Mari schreibt Kurzgeschichten, Romane und Drehbücher. Nur wenige ihrer Texte sind ins Deutsche oder Englische übersetzt, aber was ich las, eroberte sofort mein Herz. Zum Beispiel ihre Erzählung „Die Kindheit, wie sie in Wirklichkeit ist“. Lakonische Prosa über erste Freundschaft, atmosphärisch dicht, melancholisch. Ich wollte Mari kennenlernen. Mari ist ein Kind der georgischen Unabhängigkeit, geboren 1990 in Tiflis. So wie ich ein Kind der ukrainischen Unabhängigkeit bin, geboren 1986 in Kiew. Unsere beiden Länder haben sich 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion von Russland losgesagt.

Der entscheidende Unterschied zwischen diesen Frauen: Mari Bekauri (links) ist mit dem Krieg aufgewachsen, Inga Pylypchuk, die Autorin dieses Textes, nicht. Fotos: Inga Pylypchuk

Mari trägt einen Zopf und eine Jeans, deren Bund bis zum Bauchnabel geht, sie hat schmale, rot geschminkte Lippen. Wir verlassen die Stadt und schauen durch die Fensterscheibe des Busses auf grüne, menschenleere Hügel. Weiter vorne: die Berge, deren schroffe Silhouette sich an den Wolken reibt. Es ist warm draußen, aber kalt im stark klimatisierten Bus. Mari fragt mich, ob ich eine Jacke brauche. Sie hat extra zwei mitgenommen. An den russisch-georgischen Krieg 2008 kann sich Mari nur zu gut erinnern. Ihr Vater hat dort gekämpft. Am 7. August ist er verschwunden. Zwei Wochen hatte die Familie kein Lebenszeichen von ihm. Als Tochter eines Soldaten war Mari an den Gedanken gewöhnt, dass ihr Vater sterben könnte. Aber jetzt wurde es ernst. Sie war 18 und hatte das Gefühl, die Verantwortung für die Familie übernehmen zu müssen, für ihre Mutter und ihre Schwester. Sie hörte auf zu essen und zu schlafen. „Das hat mir das Gefühl gegeben, dass ich stärker und erwachsener werde. Wie eine Übung war das für mich.“
Maris Vater ist aber dann doch zurückgekehrt. Zerstört als Mensch, erinnert sie sich. „Krieg ist das Schlimmste was einem passieren kann. Nicht nur, weil du sehen musst, wie deine Leute getötet werden, sondern weil du selbst töten musst“, sagt Mari. Jahrelang musste sie mit ansehen, wie ihr Vater mit dem posttraumatischen Syndrom kämpfte, wie er nicht schlafen konnte. Sie bekam selbst Schlafstörungen.
Wir fahren nur etwas länger als eine Stunde, dann hält der Bus direkt vor einem Check-Point. So sieht sie also aus, diese Grenze. Zelte und Zäune, Stop-Schilder, gepanzerte Autos, schwarzgekleidete korpulente Männer. Hätten sie keine Waffen bei sich, sie sähen aus wie Security-Personal vor einem Nachtklub. Ich will den Check-Point fotografieren, aber das darf man nicht. Einer der Männer redet auf Georgisch streng auf mich ein, ich verstehe seine Worte nicht, aber ich weiß, was er mir sagen will.
Nur einige Meter von der Grenze entfernt steht ein kleines Haus. Im Krieg wurde es zerstört. Niedergebrannt, wie das ganze Dorf. Lia Chlachidze, die Besitzerin des Hauses, hat es erst 2015 renovieren können. Im Keller, wo sie und ihre Familie sich während der Angriffe versteckt haben, hat sie ein kleines Museum eröffnet: das August 2008 Museum. Alte Coca-Cola-Flaschen, Soldatenjacken, Puppen, Fotos. Relikte einer vergangenen Zeit. Wir gehen in den Hof. Es ist ein angenehmer, lauer Sommerabend. Die Weinreben hängen vom Dach, die Bäume rascheln friedlich, verschiedene Schattierungen von Grün fließen ineinander. Man hört das Bellen der Hunde. Wahrscheinlich wird es aus Südossetien hierhergetragen. Die Menschen sprechen leise, sogar wenn sie das Mikro in der Hand halten. Als würden sie die Stille der Toten nicht stören wollen. Oder die Stille der Feinde. Im Hof stehen Stühle, aber nicht viele. Die meisten der etwa hundert Besucher stehen herum oder sitzen im Gras. Mari und ich teilen uns einen Stuhl, das reicht uns, wir sind beide schmal.
Es werden Geschichten von Opfern vorgelesen. Auf Georgisch. Wieder verstehe ich die Worte nicht, aber ich verstehe, worum es geht. Mari weint. Ich will sie umarmen, aber ich traue mich nicht. Es gibt ja Menschen, die nicht umarmt werden möchten, wenn sie traurig sind.

Mari Bekauri im „August 2008 Museum“ an der Grenze zu Südossetien.

Vor dem Krieg gab es einen riesigen Markt in Ergneti, auf dem Georgier und Osseten zusammen Handel getrieben haben, oft mit geschmuggelten Waren aus Russland. Heute ist das schwer vorstellbar. Nicht alle fanden den Mut, in das Dorf zurückzukehren. Es wirkt verlassen. Wer hier lebt, weiß, dass die Russen, die Südossetien kontrollieren, die Grenze ständig verschieben, mal verläuft sie hier, mal dort. Man kann in Georgien einschlafen und in Südossetien aufwachen. Man kann über Nacht das eigene Feld verlieren, weil darauf plötzlich ein grünes Schild mit der Aufschrift „Südossetien“ prangt.

Auf dem Weg zurück nach Tiflis erzählt Mari mir von ihrem letzten Roman „Annas Moment“, für den sie für den renommierten georgischen Literaturpreis Saba nominiert wurde. Die Inspiration dafür kam aus dem Schmerz. Mari hat einen BBC-Bericht über die Opfer des Krieges von 2008 gesehen. Der Kommentator erläuterte, es handele sich um Osseten, die Verletzungen hätten ihnen Georgier zugefügt. Aber Mari erkannte, dass die gezeigten Menschen in Wahrheit Georgier waren. Sie schrieb eine Beschwerde an den Sender, bekam aber nie eine Antwort.
Nun ist Mari eine von rund 70 SchriftstellerInnen, die zur Frankfurter Buchmesse nach Deutschland eingeladen werden. Denn Georgien wird dort Gastland sein. Mari glaubt, dass sei eine großartige Chance für ihr Land, sich der Welt zu zeigen. Etwa 200 georgische Bücher wurden in den vergangenen Jahren anlässlich der Messe ins Deutsche übersetzt – so viele wie in keine andere Sprache.
Mari spricht nur gebrochen Englisch, manchmal muss sie lange nach Worten suchen. „Sprichst du auch Russisch?“, frage ich sie, eine Frage, die ich in Georgien vielen Menschen stelle. Denn viele tun das. Einige beherrschen Russisch besser als Englisch, bei anderen ist es umgekehrt. Mari schüttelt mit dem Kopf, nein, sie könne kein Russisch.
Wir reden weiter auf Englisch über die Sowjetunion, das Regime, das die besten Schriftsteller und Schriftstellerinnen unserer Länder umgebracht hat. Titsian Tabidze, 1937. Paolo Iashvili, 1937. Mykola Hwyljowyj, 1933. Mychajlo Draj-Chmara, 1939. Es ist stockdunkel draußen. Wir knüpfen ein engmaschiges Fischernetz aus Ähnlichkeiten und Unterschieden um uns. Der Bus fährt durch die Nacht.
„Stalin ist für mich genauso ein Mörder wie Hitler“, sagt Mari, als wir an der Stadt Gori vorbeifahren, in der Stalin geboren wurde. Ich kenne Gori nur aus den Nachrichten als eine Stadt voller Blut und Rauch, die 2008 tagelang von der russischen Armee aus der Luft bombardiert wurde. Die Erinnerung daran ist Mari heute noch unerträglich.
Als wir ankommen, sagt Mari zu mir: „Es bedeutet mit sehr viel, dass du heute dabei warst. Von allen Themen in diesem Land ist die Okkupation das wichtigste.“ Dann lächelt sie, kleine Falten spielen um ihre Augen. „Morgen werden wir aber einen lustigen Abend haben, ich verspreche es dir,“ sagt Mari zum Abschied.

Teil 2. Tiflis
Der Sommer in Tiflis riecht nach sonnenreifen Pfirsichen und fleischigen Tomaten, nach nackter Haut und weichen, saftigen Chachapuri aus dem Ofen. Ich bin etwas spät dran und laufe schnell die Agmashenebeli Allee entlang, vorbei an kleinen und großen Touristengruppen.
Im ruhigen Hinterhof in einer Seitenstraße wartet Mari auf mich. Sie hat eine smaragdgrüne Jacke an. Ich zeige auf mein T-Shirt und lache: die gleiche Farbe. „Wir gehen jetzt zu meiner Freundin Anuna,“ verrät Mari ihren geheimnisvollen Plan.
Anuna ist 30, groß, leichter Gang, breites Lächeln. Sobald ich in ihre kleine Wohnung eintrete, ist mir, als sei ich in einem Salon der Bohème gelandet. An der Wand hängt ein großes Gemälde: eine rothaarige Frau, am Boden liegend, mit nackten Brüsten, im Stil der Pop Art. Neben ihr finden noch weitere Bilder Platz. Man könnte meinen, das sei die Wohnung einer Malerin oder Sammlerin. Aber Anuna Bukia ist Regisseurin. Ihren bis jetzt wichtigsten Film hat sie über Abchasien gedreht, über ihre Heimat. 1993, als Anuna vier war, musste sie zusammen mit ihren Eltern fliehen. „Gemälde zu kaufen ist eine Herausforderung für mich“, sagt sie. „Jahrelang hatte ich Angst, mir Dinge anzuschaffen. Wie kann man das tun, wenn man vielleicht eines Tages wieder alles zurücklassen muss?“ Das andere Bild zeigt drei schwarze Frauensilhouetten. „Sie symbolisieren mich und meine Freundinnen, wir sind Kämpferinnen. Wir kämpfen für eine bessere Gesellschaft, für Frauenrechte und gegen das Patriarchat, gegen die Überbleibsel der Sowjetunion“, erklärt Anuna. In der nächsten Woche starten Mari und Anuna zusammen mit einer anderen Freundin eine Radiosendung, die sich den Frauen widmet. „Ich arbeite verdammt hart“, sagt Mari. Es wäre gar nicht möglich, nur von der Literatur zu leben, selbst wenn man Erfolg hat. Georgiens Literaturmarkt ist klein – es leben insgesamt nur vier Millionen Menschen im ganzen Land. Mari muss andere Wege finden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber das ist nicht nur ein Nachteil. Mari genießt es sehr, dass die Situation in Georgien gerade günstig ist, um sich für relevante Themen einzusetzen. Nebenher arbeitet sie als Redakteurin bei einer Filmzeitschrift.
In einer ähnlichen Situation leben die meisten SchriftstellerInnen in Georgien. Wer schreiben will, muss dafür seine Freizeit investieren. Trotzdem, vielleicht auch gerade deshalb, ist die Literaturszene in Tiflis recht lebendig, man kennt sich, verabredet sich mit anderen Künstlerinnen und Künstlern, viele Projekte entstehen aus Synergien. Die Themen, mit denen sich moderne Autorinnen beschäftigen, sind lokalen wie globalen Charakters: die Rolle der Religion, Vergangenheitsbewältigung, Geschlechterbilder, das Leben zwischen Tradition und Fortschritt. Literaturschaffende genießen in der Gesellschaft Respekt, das hat eine lange Tradition. Die georgische Literatur geht auf das 5. Jahrhundert zurück, eines ihrer wichtigsten Werke ist das Epos „Der Recke im Tigerfell“ von Schota Rustaweli aus dem 12. Jahrhundert. „Im Mittelpunkt steht die Königin Tamar. Unter ihrer Herrschaft hat Georgien seine Blütezeit erlebt“, erzählt Mari stolz. „Wir brauchen wieder mal eine Frau an der Spitze des Staates“, ergänzt sie.
Wir trinken Weißwein, dazu gibt es Käse und Pflaumen, wir rauchen auf dem Balkon, wo die Geräusche der offenen, pulsierenden Stadt uns einfangen. Ich frage Anuna nach ihrer Heimatstadt. 25 Jahre ist es her, dass Sochumi gefallen ist. Georgien hat sich entwickelt, vielleicht sogar erholt, aber kein Krieg geht spurlos an einem Land, an den Menschen vorbei. „Abchasien ist für immer in mir, die Berge und das Meer, beides gleichermaßen“, sagt Anuna.
Die erste Erinnerung in Maris Leben: Ein blutverschmierter Mann wird zu ihnen nach Hause gebracht. Die dreijährige Mari hat Angst, sie will den Mann nicht ansehen. Erst später versteht sie, dass dieser Mann ihr Vater ist. „Weiß du, vor dem Krieg in Abchasien war mein Vater einer, der Beatles gehört und Jeans getragen hat, als das noch verboten war,“ sagt sie.
Ich muss lachen, denn genauso war auch mein Vater. Nur musste er nicht in den Krieg ziehen. Ich denke an die erste Erinnerung meines Lebens. Ich bin auch drei. Nach einer Kreuzfahrt gehen mein Vater und ich in Kiew an Land, er hält meine Hand fest.
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen mir und den zwei Frauen, mit denen ich den Abend teile: Sie sind mit dem Krieg aufgewachsen, ich nicht.
„Alles, was wir kannten, war Krieg und Brotschlangen“, schrieb Mari in ihrem autobiografischen Roman „Oma, Ray und Amerika“. „Wenn Väter am Abend nach Hause kamen, dann nicht von der Arbeit. Diese Zeiten waren anders. Väter, das waren die Männer, die mitten in der Nacht nach Hause kamen, zermürbt von der Kriegsmüdigkeit, die, die schweigend dasaßen, schweigend, immer schweigend. Wir wussten nie, was los ist.“
Mari ist mit der Angst aufgewachsen, ihren Vater zu verlieren. Nun ist er Rentner und hat seine militärische Karriere hinter sich, aber Maris Angst ist nicht vergangen. Sie ist nur zerstoben in viele kleine Ängste. Mari hat Angst vor überfüllten Räumen, sie kann nicht in Clubs gehen, auch nicht mit der U-Bahn fahren. Auch vor kleinen, engen Räumen hat sie Angst.
Wir reden über die Neunziger. Die Zeit unserer Kindheit, in der unsere Länder bereits unabhängig waren, aber noch an den gleichen Symptomen litten, als hätten sie beide dieselben Krankheiten in ihre neue Zeit geschleppt: Korruption, Kriminalität, katastrophale Lebensbedingungen. „Das war eine sehr harte Zeit,“ sagt Mari, „aber die Armut hat mich empathischer gemacht.“ Ich halte mich an ihrem Satz fest und versuche zu verstehen, was mich empathischer gemacht hat. Armut? Vielleicht auch. Und ganz sicher auch der Krieg, seitdem er 2014 in mein Land, in die Ukraine, gekommen ist. Was wusste ich vorher vom Krieg? Nichts. Was weiß ich jetzt? Immer noch sehr wenig, zum Glück. Aber ich sehe seine Spuren überall, ich sehe sie auch in den Menschen, die viele Kilometer entfernt von der Frontlinie wohnen. Vielleicht erscheint mir deswegen alles, wovon Anuna und Mari reden, so vertraut.
Vielleicht suche ich sogar eine Art Hoffnung in ihnen, wenn ich sie mir, zwei erfolgreiche junge Frauen im Zentrum von Tiflis, anschaue. Die Hoffnung, dass auch die Mädchen, die nun in meinem Land mit dem Krieg aufwachsen, Töchter der Geflüchteten und die der Soldaten, es irgendwie schaffen werden, aus dem Kreislauf der Gewalt herauszubrechen. Dass sie es lernen werden, mit der Angst umzugehen, über sie hinauszuwachsen. Sie in eine kreative Energie zu verwandeln. Dass sie stark und schön werden. Offen und mutig. Wie die beiden Frauen hier.
Später, als wir auf dem Parkett sitzen, frage ich Mari, wie es dazu kam, dass sie kein Russisch spricht. Sie habe es einfach eines Tages beschlossen, sagt sie. „Und was wäre, wenn ich kein Englisch könnte, hättest du dann nicht mit mir geredet?“ Mari schweigt eine Weile. „Dann hätte ich Freunde, die Deutsch können, um Hilfe gebeten.“
Ich finde es schade, dass Mari mit mir nicht Russisch gesprochen hätte. Schließlich ist Russisch nicht nur die Sprache derer, die in ihrem und in meinem Land Gewalt und Hass geschürt haben, sie ist auch meine Muttersprache. Aber ich kann Mari trotzdem verstehen. Ich bin sogar ein wenig neidisch darauf, wie einfach es hier in Georgien ist, auf Russisch zu verzichten. Sprache ist in Georgien die Grundlage der nationalen Identität. Ein Georgier ist jemand, der Georgisch spricht. Russisch ist die Sprache der Nachbarn. Oder der Feinde. Ein Ukrainer kann dagegen Ukrainisch oder Russisch sprechen, oder beides, oder sogar beides durcheinander. Was unsere Stärke sein könnte, ist in der Situation des Krieges unsere Schwäche.
Als der Abend zu Ende geht, rufen wir ein Taxi. Mari und ich sitzen wieder nebeneinander, leicht angetrunken. Die Luft ist weich und frisch wie Flusswasser vor der Morgendämmerung. Zikaden zirpen. Das Auto gleitet von einem Ufer auf das andere, dann ganz hoch und wieder runter, wie auf einer Achterbahn. Die Kaukasus-Berge umzingeln schweigend die Stadt. Als ich am Hotel aussteige, umarmen wir uns fest. „Danke dir für dich,“ sagt Mari. Wenn es so etwas wie eine postsowjetische Schwesternschaft gibt, dann weiß ich jetzt, wie sich diese anfühlt.