Nicht willkommen

Erschienen in: Frankfurter Rundschau, 4./5. Feb. 2017, S. 24-25, Download als PDF hier.

Mit Schäferhunden und Zäunen versucht Bulgarien seine Grenze abzuschotten. Die Flüchtlinge, die es trotzdem ins Land geschafft haben, leben in kärglichen Unterkünften und stoßen auf aggressive Ablehnung.
Von Olivia Kortas und Kasper Goethals

Schweigend läuft Omaid Niazi über die braun verschmierten Kacheln des langen Gangs. Die Luft riecht modrig und verbraucht, nach vielen Menschen auf engem Raum. Hartes Neonlicht fällt auf Nasen und Wangen der Männer und Frauen, die unbeteiligt an den Wänden lehnen, als würden sie schon lange auf etwas warten. Ihre Rücken verdecken Löcher im Putz, über den Köpfen baumeln abgebrochene Deckenplatten. Niazi kitzelt zwei Jungen, streicht ihnen über das Haar. Dann biegt er nach links ab, in das kleine Zimmer, das er sich mit drei anderen teilt. Seit fünf Monaten lebt der 19-jährige Niazi in der bulgarischen 18 000-Einwohner-Stadt Harmanli an der Grenze zur Türkei. In der Kleinstadt vergehen die Tage langsam und unaufgeregt. Die meisten Einwohner arbeiten in der Stadtverwaltung oder auf den Weingütern in der Umgebung. In den Erdgeschossen schäbiger Blöcke findet in kleinen Läden und einfachen Cafés das Leben statt.
Ende 2012 funktionierte die Regierung die alte Militärbasis Harmanlis zum größten Flüchtlingslager des Landes um. 2150 Migranten und Asylbewerber leben hier. Die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan, so wie Niazi. Sie schlafen in verwahrlosten Betonbaracken, trotz  der Minusgrade teils ohne Heizung. Nur die Mauer um das Flüchtlingslager wurde frisch gestrichen, der Stacheldraht schimmert neu.

Im Flüchtlingscamp in Harmanli herrschen elende Zustände. Die Menschen schlafen in verwahrlosten Baracken, es gibt keine Heizung. Foto: Kaspar Goethals

„Wir rissen die Platten weg, um uns oben zu verstecken“, sagt Niazi heiser und deutet auf die Decke in seinem Zimmer. Die Schäden erinnern ihn jeden Tag an den hitzigen Aufstand im November. 1500 Flüchtlinge – die meisten junge Afghanen – warfen mit Steinen nach Polizisten und zündeten Reifen an. Die Beamten setzten Wasserwerfer ein. Ein Video zeigt, wie sie einen Jugendlichen über den Boden schleifen. Die Bewohner des Lagers berichten, die Polizisten seien von Raum zu Raum gestürmt, hätten die Männer systematisch verprügelt.
Nikolay Georgiev erinnert sich, wie die Stimmung in Harmanli bereits im Sommer kippte. Statt syrischer Familien kamen immer mehr junge afghanische Männer in seine Heimatstadt. Georgiev, stämmig, dunkel-orange Haut, kleine Kinnpartie mit borstigem Bart, sitzt in einem Bistro, zwei Kilometer von Niazi entfernt. Es riecht nach Zigarettenrauch und heißem Fett, an den Fenstern blinken grüne und rote Lichterketten. Georgiev spricht leise, er möchte nicht auffallen, die aufdringliche Radiomusik übertönt ihn. Trotzdem beobachten ihn die Mütter, älteren Herren und diskutierenden Männer im Lokal und nicken ihm freundlich zu. Sie kennen ihn und seine Standpunkte. Hier in Harmanli wuchs Georgiev auf, hier wählten sie ihn zum lokalen Chef der Partei Bulgarische Nationale Bewegung (IMRO), von hier will er nicht weg. Weg sollen die Afghanen. „Sie sitzen in unseren Parks, essen dort, pissen und lassen ihren Plastikmüll liegen“, sagt der 41-Jährige. Seit vier Jahren spielen Migranten eine immer größere Rolle in Georgievs Leben. Er arbeitet im Straßenbau, doch mittlerweile investiert er genauso viel Zeit in seine Partei. Gesprochen hat er mit den Migranten noch nie. „Wozu? Schon von weitem sehe ich, was das für Leute sind“, sagt er. 95 Prozent der Afghanen seien Wirtschaftsflüchtlinge,  Parasiten, die gefüttert werden wollten und sich nicht integrieren ließen.
Die eisige Kälte schnürt Niazi den Atem ab, als er über das Gelände zur nächsten Baracke läuft. Er spricht sechs Sprachen und übersetzt für eine internationale Organisation im Lager. In Afghanistan brach er die Schule nach der siebten Klasse ab, um zu arbeiten. Der Jugendliche ist nicht vor dem Krieg geflohen, in Europa sucht er ein besseres Leben. Er ist einer von denen, die Georgiev Parasiten nennt.
Niazi weiß, dass seine Grenzüberquerung illegal war. Er stapfte mit anderen Migranten durch die lichten, bergigen Wälder im Südosten Bulgariens. Vorbei an Seen, dem Fluss Rezovo und seinen Verästelungen. Ein drei Meter hoher Grenzzaun schlängelt sich silbrig glänzend durch die menschenleeren, flachen Hügel zwischen Bulgarien und der Türkei. Im östlichen Sandscha-Gebirge fehlen einige Meter Zaun. Hierher schicken die meisten Schleuser ihre Kunden.
Zwölfmal griffen bulgarische Grenzpolizisten Niazi in dieser Gegend auf. Er erzählt, wie sie sein Geld stahlen, ihn schlugen und zurück in die Türkei jagten. „Drei oder vier Männer trugen schwarze Masken. Sie prügelten uns mit Schlagstöcken“, flüstert Niazi. „Meistens ließen sie die Hunde auf uns los.“ Erst beim dreizehnten Mal konnte er in Bulgarien bleiben. Fast alle Männer in Harmanlis Lager erzählen von diesen sogenannten Push-Backs. Wenn Grenzpolizisten Migranten zurückschicken, brechen sie internationales Recht. Jeder, der EU-Boden betritt, darf einen Asylantrag stellen. Doch stattdessen beißen Schäferhunde an der EU-Außengrenze Flüchtlinge zurück. Das bestätigt Majd Algafari, der lange zwischen Grenzpolizisten und Migranten übersetzte. Bis heute dränge die Grenzpolizei Migranten gewaltsam zurück. Der Befehl für die Push-Backs kommt laut Algafari „von oben“.
Vor einem Jahr sperrte Mazedonien seine Grenze zu Griechenland. Die wichtigste Fluchtroute über die Balkanstaaten ist seitdem dicht. Die Europäische Union blockierte mit stärkeren Kontrollen den Weg über die Ägais nach Griechenland. Alternativ können die Menschen über das Schwarze Meer nach Rumänien fliehen, über den Seeweg nach Italien oder über den Landweg nach Bulgarien.
In der Türkei, vor den Toren Europas, leben mittlerweile drei Millionen Flüchtlinge. Sofia verhindert ihren Eintritt mit allen Mitteln, aus Angst, der Weg durch Bulgarien werde zur neuen Hauptroute. Dabei entfernt sich das Land, seit zehn Jahren Mitglied der EU, Schritt für Schritt von den europäischen Bulgarien, das ärmste Land der EU, ist nicht das Ziel der Flüchtlinge. Es dient als Transitland. Die Fremdenfeindlichkeit und die schlechten Zustände in den Flüchtlingslagern sind den Migranten bekannt. „Keiner wählt den Weg über Bulgarien freiwillig“, sagt Niazi, der in Harmanli ausharrt. Er hofft auf Asyl, doch seine Chancen stehen schlecht. Niazi weiß nicht, ob und wann er zurück nach Afghanistan muss.
Svetlana Nikolovas lange Finger blättern durch glänzende Fotoabzüge. Die Autorin sitzt in einem schicken, kühlen Café im Zentrum Harmanlis. Die Bilder in ihren Händen versetzten die ganze Stadt in Panik. Nikolova bat Migranten darum, ihr ihre Hautkrankheiten an Armen und Beinen in die Kamera zu halten. Die verängstigten Einwohner stellten sich hinter Georgievs rechtspopulistische IMRO, als die Bilder die Runde machten. Im Sprechchor riefen Hunderte „Invasoren raus!“, marschierten an der Hauptstraße entlang bis vor das Lager. „Ich bereue trotzdem nicht, die Fotos veröffentlicht zu haben“, sagt Nikolova, ihre katzenhaften Augen sprühen vor Aufregung. Georgievs Bekannte genießt die Aufmerksamkeit.
Nach dem Protest verwehrte die Regierung den Menschen im überfüllten Flüchtlingscamp den Ausgang und löste so den Aufstand aus. Ministerpräsident Bojko Borissow, die Innenministerin und der Chef der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge reisten in derselben Nacht nach Harmanli. Sie verlegten 400 Afghanen in ein geschlossenes Zentrum und bauten eine Mauer um die ehemalige  Militärbasis. „Borissow versprach mir, dass die Afghanen das Lager in Zukunft nicht verlassen dürfen“, sagt Georgiev. Er merkt, dass die bulgarische Politik langsam seine Forderungen erfüllt.
Als der Ministerpräsident am nächsten Tag die Autobahn von Harmanli nach Sofia nahm, fuhr er durch unberührte Natur und weite Felder, vorbei an grünen Straßenschildern mit aufgesprühten Hakenkreuzen. Und als er die Hauptstadt erreichte, störte er sich nicht an den Hakenkreuzen an Häusern und Mauern. Weltoffene Bulgaren zögern, bevor sie ausländische Freunde nach Sofia einladen.
In Sofia sehen die Menschen selten Flüchtlinge. Ihre Wut richtet sich stellvertretend gegen jene, die den Fremden am nächsten stehen. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Journalisten, die der fremdenfeindlichen Stimmung trotzen. Priester, die auf Facebook Fotos mit Flüchtlingen und Roma hochladen. Sie erhalten  Morddrohungen, per E-Mail oder über ihre sozialen Netzwerke. Und der Druck wirkt: Die größten internationalen Menschenrechtsorganisationen verhalten sich mittlerweile zurückhaltend, treten nur selten an die Öffentlichkeit. Sie fürchten um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter. „Seit 2014 verschlimmert sich die Situation für Menschenrechtsaktivisten“, sagt Krassimir Kanev. Der Leiter des Bulgarischen Helsinki-Komitees, der aktivsten Menschenrechtsorganisation des Landes, bekam das am eigenen Leibe zu spüren. Es war im Oktober 2016, auf dem Weg zu seinem Büro, als er den Blick eines Mannes traf. „Ich sah, dass der Typ mich erkannte. Er lief ohne zu zögern auf mich zu“, erzählt Kanev. Im nächsten Moment spürte er einen harten Schlag ins Gesicht. Der Angreifer verschwand. Niemand hielt ihn auf.
Die Armut des Landes, das scheinbare Ideal einer ethnisch reinen Bevölkerung und eine auf Legenden basierende Bildung sind laut Kanev Schuld am bulgarischen Fremdenhass. Im Geschichtsunterricht hören die Kinder von der Unterdrückung durch das muslimische osmanische Reich. Muslime sind in Bulgarien unbeliebt, obwohl es das EU-Land mit dem größten muslimischen Bevölkerungsanteil ist.„Fremdenhass ist politisch attraktiv, und die Medien spielen mit“, sagt Kanev. Angela Merkel blickt ihm vom Titelblatt einer Zeitung
entgegen. „An Merkels Händen klebt Blut“, liest er die Schlagzeile vor und legt das Blatt langsam weg. Es ist der Tag nach dem Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz. Bulgarische Medien, Politiker und Bürger begründen damit in den nächsten Tagen ihre Ablehnung gegen Flüchtlinge. Am Grenzübergang bei Svilengrad dreht sich ein Polizist der Türkei zu und schwenkt theatralisch die Arme, als würde er jemanden herwinken: „Merkel! Großes Problem!“
In der Grenzregion begegnen manche Menschen den Migranten verständnisvoller als in der Hauptstadt, auch wenn die populistischen Schlagwörter bis hierher dringen. Einspurige Asphaltstraßen mit tiefen Schlaglöchern führen durch das frostige Weiß der Felder. Ab und zu passieren sie zerbröckelnde Steinhäuschen, die schuppigen Dächer erinnern an alte Fischhaut. In einigen Weilern leben nur noch fünf oder sechs Menschen. Flüchtlinge ziehen vorbei, wenn sie die grüne Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei überqueren.
Ein weißhaariger Mann mit orangener Weste und blauer Jogginghose betritt den kleinen Laden in Mamarchevo, einem Dorf mit 300 Einwohnern, 15 Kilometer von der Grenze entfernt. „Vor zwei Monaten habe ich 22 Flüchtlinge  gefunden!“,  sagt er stolz. „Mein Hund hat sie gerochen, als ich auf der Jagd war.“ Es war das erste Mal, das Michal Glichalew Migranten gesehen hat. „Ich ging auf sie zu, fragte: Ihr dort? Was seid ihr für Menschen?“, erzählt der 67-Jährige. Die Gruppe sei wie angewurzelt stehen geblieben. Glichalew blinzelt durch schneeweiße Wimpern, er ahmt mit aufgerissenen Augen und offenem Mund die Mimik der Migranten nach. „Kinder waren dabei und Frauen“, erzählt er. „Ich hatte keine Angst, sie taten mir leid.“ Erst später, als Glichalew den Leuten in Mamarchevo von dem Vorfall erzählte, wurde ihm mulmig. Sie sagten ihm, dass Flüchtlinge doch gefährlich sein könnten. Georgiev in Harmanli denkt, Übertritte wie bei Mamarchevo dürfe es nicht mehr geben. Die EU müsse die Grenze besser schützen. „Wir sollten schießen dürfen“, sagt Georgiev. „Mit Gummipatronen und, falls die nicht helfen, dann eben scharf.“