Die Geschichte der Schwarzen Menschen in Deutschland ist vielerorts nach wie vor fast unsichtbar. Doch es gibt Bibliotheken, die das gezielt ändern. Von Olivia Samnick.
Erschienen am 30.10.2024 in der Print-Ausgabe der Frankfurter Rundschau (PDF hier), auf fr.de am am 29.10.2024 (Link hier).
Mariama blickt auf. Eine dunkle Locke wippt ihr in die Stirn, als sie sagt: „Ich bin überwiegend in einem weißen Umfeld aufgewachsen.“ Nachdenklich knibbelt sie an den Seiten des schmalen Buchs in ihren Händen. Für manches entbehrt die deutsche Sprache das passende Wort, etwa für „whitewashed“: also zur Gewissheit, dass da Stimmen überspült wurden, die eigentlich da sein sollten. Dass dadurch vieles einseitig betrachtet wird.
Whitewashed. Wer selbst Schwarz ist in diesem Land, der weiß sofort, was die 23-Jährige meint: Wie gedacht wird, sich gekleidet, gegessen, gesprochen und gelebt – das wird durch weiße Perspektiven bestimmt. Worüber die Nase gerümpft, getuschelt oder geschwiegen wird – auch das bestimmt eine weiße Perspektive. Eine Schwarze Geschichte ist immer eine, die mit Rassismus zu tun hat, das lernt man von Kindesbeinen an. Aber das ist nicht alles.
Mariama kennt das. Sie ist selbst afrodeutsch. Sie ist mit solchen Kindergeschichten aufgewachsen: In „Pippi Langstrumpf“, dem doch eigentlich so mutigen, aufgeschlossenen Roman, fällt das N-Wort. Im „Struwwelpeter“ werden unartige Kinder zur Strafe schwarz eingefärbt. Jim Knopf, der neugierige, Schwarze Junge, ist im Werk von Michael Ende dann doch als fremder Exot inszeniert.
Ihr Vater kommt aus Gambia, die Mutter aus Deutschland. „Von der Seite meines Vaters würde ich gerne noch mehr erfahren“, sagt Mariama. Heute will sie sie kennenlernen: die Schwarzen Geschichten, die sonst fehlen. Hier in Köln und in einer Handvoll anderer deutscher Städte haben die fehlenden Seiten der Geschichte in Bibliotheken ein Zuhause gefunden.

Mariama lehnt sich zurück. Die Studentin sitzt auf einem schmalen Sofa in der Theodor Wonja Michael Bibliothek. Um sie herum hohe Bücherregale. In einem davon, befindet sich ein Teil des Nachlasses des Namensgebers dieser Bibliothek, eines Schwarzen Journalisten und Schauspielers. Einer, der für Deutschland Geschichte geschrieben hat. Denn er hat die NS-Zeit überlebt, wovon sein Buch „Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen“ erzählt. Michael ist damit einer der wenigen Zeitzeugen, der dieses deutsche Kapitel aus Schwarzer Perspektive zu Papier gebracht hat. Eine Rarität. Raritäten wie diese gibt es so gesammelt nicht nur in Köln, sondern etwa auch in Berlin, Hamburg, Bremen. Bibliotheken, die Schwarze Literatur beheimaten. Und diese zeigen Besucherinnen und Besuchern wie Mariama: Da sind Menschen, die sind wie ich. Die teilen meine Erfahrungen. Schwarzsein wird nicht auf Rassismus reduziert. Schwarze Bibliotheken sind vielfältig: Sie sind Veranstaltungsräume, Räume der Vernetzung, des Lernens und der Identitätssuche.
In Bremen sind es nicht Jim Knopf und Pippi Langstrumpf, die Kinder von bunten Buchrücken aus anspringen: Es sind „Nelly und die Berlinchen“, ein freches und mutiges Schwarzes Mädchen und seine Kita-Freundschaften, oder „Black Heroes“, eine Zusammenstellung bedeutender Schwarzer Persönlichkeiten der Zeitgeschichte. Eine ganze Bandbreite an Geschichten aufgereiht in einem kleinen Raum, der früher einmal ein Ladengeschäft war. Dazu eine Spielecke, kindgerechte Stühle im Miniformat. „You are seen, you are loved“, also: „Du wirst gesehen, du wirst geliebt“, steht außen an der Fassade in bunten Buchstaben.
„Es ist ganz wichtig, Schwarzen Kindern, afrikanischen Kindern, afrodiasporischen Kindern etwas mitzugeben, das sie ihr eigenes Schwarzsein positiv erfahren lässt“, sagt Maimuna Sallah, Co-Leiterin der SchwaKibi – Deutschlands erster Schwarzen Kinderbibliothek. Für weiße Kinder sei das selbstverständlich, für Schwarze jedoch nicht. Sie lächelt. Die Begeisterung für Kinder sieht man ihr an. Wäre Sallah nicht hier, dann wäre sie Lehrerin. Stattdessen sitzt die studierte Pädagogin nun mehrmals die Woche am Eingang der SchwaKiBi und betreut den kostenlosen Buchverleih.
Sie selbst und auch einige der erwachsenen Besucher:innen hätten sich einen Ort wie diesen als Kind gewünscht. Einen Ort, der Schwarze Identitäten als vielschichtig begreift und auch zeigt: „Es ist etwas Schönes, mit mehreren Sprachen aufzuwachsen, oder auch wenn ein Elternteil aus einem anderen Land kommt“, sagt Sallah. „Das versuchen wir hier zu feiern.“
Die Schwarze Kinderbibliothek in Bremen ist in Deutschland die erste ihrer Art: Initiator Sheeko Ismail brachte die Idee dazu aus Frankreich mit. Sallah kam dann als Co-Leiterin hinzu. Ihr geht es um Sichtbarkeit: „Ich halte es für verheerend. wenn Kinder merken, dass sie in einer Gesellschaft nicht mitgedacht werden, andere Menschen aber schon“, sagt sie. Schwarze Lebensrealitäten miteinbeziehen – ob das nicht auch eine normale, städtische Bibliothek leisten könne?

Maimuna neigt den Kopf. Es gebe Eltern, die sich nicht wohlfühlten: „Sie spüren, dass die Menschen dort nicht denken, dass ich meinem Schwarzen Kind überhaupt vorlese.“ Rassistische Vorurteile. Solche, die in der Bibliothek, die von zwei Schwarzen Personen betreut wird, keinen Platz haben. Eine Bibliothek zum Empowerment und als selbstgeschaffener Safer Space für Schwarze, ein diskriminierungsarmer Raum also.
„Es braucht eine Veränderung“, sagt auch Millicent Adjei. Schon im Studium habe die Hamburgerin gemerkt: Hier werden immer wieder nur dieselben Perspektiven geteilt. Darum hat sie die „Fasiathek“ gegründet, Hamburgs Schwarze Bibliothek. Benannt ist diese nach Fasia Jansen, einer Schwarzen Friedensaktivistin und Liedermacherin. Ein Vorbild für Adjei. Auch sie ist eine Schwarze Frau in Deutschland. Auch sie ist eine engagierte Aktivistin für die Schwarzen Communities. „Wir sind gekommen, um zu bleiben“, sagt Adjei.
Geschäftiges Treiben. Geplauder. Die Besucher:innen in Hamburg sind ebenso vielschichtig wie die Hansestadt – das Tor zur Welt – selbst: Wann sonst treffen schon Menschen in farbenfrohen Bubus und geflochtenen Braids oder gefilzten Locs auf solche in Jeans und weißen Sneakern. Viele junge Frauen Anfang 20 stehen älteren Paaren gegenüber. In der Fasiathek findet das erste Schwarze Literaturfestival Hamburgs statt: Das „Black Writers Book Festival“.
Eine Frau erzählt, sie sei aus Südafrika angereist. Sie beugt sich über ein Regal, in dem sich deutschsprachige Literatur an englischsprachige reiht. Die Autor:innen sind Schwarz. Schwarz mit einem großen „S“, denn es meint keine Farbe, sondern die Selbstbezeichnung von afro- und afrodiasporischen Personen, fernab rassistischer Fremdzuschreibungen.

Literaturfestivals wie dieses gibt es auch in anderen Metropolen: In Berlin fand in diesem Jahr die Afrolution statt, in den Räumen des Vereins Each One Teach One (Eoto), der auch ein Schwarzes Literaturarchiv betreibt – das wohl älteste in Deutschland, 2012 gegründet aus dem Nachlass der afrodeutschen Aktivistin Vera Heyer heraus. Früher eine Kiezbibliothek, heute eine, für die Menschen von weither anreisen oder in der Studierende zu Forschungszwecken immer wieder über Büchern brüten. Durch Spenden und Schenkungen ist die Sammlung gewachsen: Bücher, Flyer zu Veranstaltungen, Programmhefte, die Aktivist:innen manchmal 30 Jahre aufbewahrt haben: „Das ist einzigartig“, sagt Philipp Khabo Koepsell, der Leiter des Eoto-Archivs.
Wenn nicht gerade auf einem kleinen Podium diskutiert wird, können in der Fasiathek und im Eoto-Archiv Bücher vor Ort gelesen werden. Das Konzept der „Präsenzbibliothek“ zieht sich durch, denn anders ist der Aufwand, die gut 2000 Bücher in Hamburg und die gut 8000 Bücher in Berlin zugänglich zu halten, ohne weitere Ressourcen kaum zu stemmen.
Betrachtet Koepsell in Berlin nun die Besucher:innen seiner Bibliothek, die gleichzeitig Veranstaltungsraum für Lesungen und auch Büro für den Verein ist, ist die Sache klar: „Ich kann nicht sagen, ob es gut oder schlecht ist, dass es diesen Raum gibt. Ich kann nur sagen: Dass wir gebraucht werden.“
Viele der Schwarzen Bibliotheken gibt es noch nicht allzu lang: Die Bremer Bibliothek wurde im Januar 2022 ins Leben gerufen. Die Kölner Bibliothek eröffnete am 19. Februar 2022, die Hamburger Bibliothek am 26. März desselben Jahres. Dabei sind Schwarze, afrodiasporische und afrodeutsche Menschen weit mehr als ein Jahrhundert Teil der Bevölkerung in Deutschland. Und dann kam 2020.
„Das war eine Zäsur für die ganze Welt“, erinnert sich Glenda Obermuller. Die Guyanerin hat die Schwarze Bibliothek in Köln mit aufgebaut. 2020 war das Jahr des rassistischen Terroranschlags in Hanau. 2020 war auch das Jahr, in dem der Afroamerikaner George Floyd durch rassistische Polizeigewalt zu Tode kam. Seine Worte „I can’t breath“ wurden zu einem Weckruf für eine ganze Bewegung, die sich gegen Rassismus einsetzt – auch in Deutschland. Und auch zu einem Weckruf in Schwarzen Communities, dass es mehr Schwarze Räume braucht. Auch solche mit Büchern.
„Ich bin in einer komplett weißen Familie aufgewachsen und kenne meinen Schwarzen Vater gar nicht“, sagt Sarah Miriam Lutzemann. Sie hat die erste Diversity-Buchhandlung Halles eröffnet, die seit Ende Mai 2024 aber geschlossen ist. Rassismus wurde in der Familie nicht zum Thema gemacht, das kam erst später, als Lutzemann anfing, Bücher zu verschlingen. „Ich weiß heute natürlich, dass ich Dinge erlebt habe, für die ich damals keine Worte hatte. Ich ging davon aus, dass es an mir liegt, dass Leute auf mich anders reagieren“, erinnert sie sich an ihr Heranwachsen. „Heute weiß ich es besser.“ Literatur war ihr Zugang, diese Erfahrungen in Worte zu fassen.

Auch Mariama erinnert sich zurück: Genau 2020 begann sie ebenfalls, sich intensiver mit ihrer Schwarzen Seite auseinanderzusetzen. Jetzt, in der Kölner Theodor Wonja Michael Bibliothek, sucht sie weiter nach Bezügen zu ihrer Identität. Sie sucht nach deutschen, Schwarzen Biografien.
Während sie danach gräbt, geht durch die Nachrichten eine Meldung: Zwei ghanaische Mädchen wurden knapp 530 Kilometer nördlich von Köln, im mecklenburgischen Grevesmühlen, rassistisch körperlich attackiert. „Das sind unsere Kinder“, sagt Obermuller. Da ist Schmerz in ihrer Stimme. Fassungslosigkeit. Auch 2024 brauche es noch Schwarze Rückzugs- und Begegnungsorte. Gerade jetzt.
Jede Bibliothek versteht sich auch als ein Ort, an dem Rassismus verlernt wird. Die Bibliotheken stehen auch Weißen offen. Während Schwarze Besucher:innen gemeinschaftsstiftende Erlebnisse haben oder ihrer Identität nachspüren, können Weiße sich hier Rassismen abtrainieren, die sich durch die Gesellschaft ziehen: indem sich Besucher:innen bewusst mit Schwarzer Literatur auseinandersetzen. Von Coming-of-Age-Jugendromanen über Anti-Rassismus-Ratgeber bis zur Geschichte Schwarzer Menschen in der NS-Zeit, wie jene von Theodor Wonja Michael.
8860 öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken gab es im Jahr 2023 in Deutschland, Tendenz schrumpfend. Immer wieder bangen auch die Schwarzen Bibliotheken: In Berlin fehlt noch ein fester Fördertopf für das Jahr 2024. In Hamburg arbeitete Adjei in jeder freien Minute für die Bibliothek. In Bremen hofft die SchwaKiBi, auch weiterhin Förderungen durch die Stadt zu erhalten.
Die Theodor Wonja Bibliothek wird kurze Zeit nach Mariamas Besuch eine Kündigung erhalten. Der Vermieter hat den Vertrag aufgelöst – die Bibliothek und der ehrenamtliche Verein dahinter sind ihm ein Dorn im Auge. Alle Bücher sollen binnen drei Monate eine neue Bleibe finden. In Köln. Einer Großstadt, die wie so viele andere von Wohnungsnot betroffen ist, wo es ehrenamtliche Projekte schwer haben einen Platz zu finden, wenn das Geld knapp ist. Nachdem die Bibliothek die Kündigung auf Social Media publik gemacht hat, reicht der Ex-Vermieter eine Unterlassungsklage ein.
Glenda Obermuller, die Initiatorin, kämpft und sucht händeringend nach einer neuen Bleibe. Und tatsächlich: Aufatmen Mitte September, knapp zwei Wochen vor der Auszugsfrist. Seit Oktober 2024 hat die Theodor Wonja Michael Bibliothek ein neues Zuhause, 102 Quadratmeter im Kölner „Quartier am Hafen“. „Wir werden alles unterbringen“, sagt Obermuller erleichtert.