Ungarn wählt am Sonntag – und auf allen Kanälen läuft Staatspropaganda. Doch es gibt eine Bewegung, die mit unabhängigen Nachrichten aufklären will: in einer kleinen selbstgemachten Zeitung
Von Zsáklin Diana Macumba (Text) und Simon Móricz-Sabján (Fotos)
Erschienen am 02.04.2022 auf fr.de, PDF der Print-Version hier.
Budapest – Es ist ein lauwarmer Frühlingsabend im März, im Restaurant „Koleves“ im siebten Bezirk sind fast alle Tische belegt. Um 19 Uhr treten einige Menschen durch die Restauranttür, durchqueren zielstrebig den Essbereich, biegen rechts ab und laufen einen schmalen Gang entlang. Von dort hört man ein lautes Stimmengewirr, Lachen und das Bewegen von Möbelstücken. Der etwa 15 Quadratmeter große Raum ist vollgestellt mit mehreren langen Holztischen und etlichen Stühlen. Auf dem Boden, auf den Tischen stehen braune Kartons. Vor Frauen und Männern aus allen Altersklassen stapelt sich weißes DIN-A4-Papier. Je nachdem wie oft sie an diesen Zusammenkünften bereits teilgenommen haben, falten sie die Blätter in Windeseile oder langsam und vorsichtig. Selbstironisch nennen sie diese Treffen „Origami-Abende“.
Doch der Anlass für diese wöchentlichen Treffen könnte kaum wichtiger sein: Die Menschen in diesem Hinterzimmer kämpfen für die Pressefreiheit in Ungarn. Sie sind Teil einer Bewegung, die mit einer wöchentlich erscheinenden, unabhängigen Zeitung für den Erhalt der Medienvielfalt in ihrer Heimat kämpft. Auf den doppelseitig bedruckten Bögen steht in großer Überschrift auf Ungarisch: „Druck es selbst! Nachrichten, die bis jetzt nicht zu allen durchgedrungen sind. Ausgabe 244“. Die aus Freiwilligen bestehende Bewegung hat die ungarischen Gemeinden unter sich aufgeteilt. Sie fahren samstags in Gruppen oder alleine in die Dörfer, um ihre Zeitungen unter den Leuten und in die Briefkästen zu verteilen. Eine Woche vor den ungarischen Parlamentswahlen am 3. April werden insgesamt rund eine Million Zeitungen gedruckt. Und auch einen weiteren Meilenstein haben sie erreicht: Die Zeitung wird offiziell in 2000 ungarischen Dörfern regelmäßig verteilt. Noch dazu kann jede und jeder die Seiten aus dem Internet herunterladen, ausdrucken und selbst verteilen.
Der „Selbstverlag“ hat in der ehemaligen Sowjetunion Tradition
Die leichte Zugänglichkeit und einfache Verbreitung war ein ausgesprochenes Ziel des Gründers János L. László. „Wir waren am Anfang so naiv und dachten die Menschen werden die Zeitung in ganz Ungarn von unserer Homepage runterladen und von alleine verbreiten. Das ist leider nicht eingetreten“, sagt der 64-Jährige. Im Innenhof des Restaurants erklärt er seine Motivation für die Gründung der Zeitung. Nachdem er sich jahrelang wie gelähmt von der Allmacht der Regierung fühlte, entschied sich der ehemalige Journalist 2017 die „Druck es selbst!“-Bewegung zu gründen und eine aktive Rolle gegen das Einstampfen der Medienvielfalt einzunehmen. „Ich habe erkannt, dass die Fidesz-Regierung eine Lügenfabrik errichtet hat und die rurale Bevölkerung von den freien und objektiven Nachrichten isoliert.“
László und seine freiwilligen Mitstreiterinnen und Mitstreiter greifen mit ihrem Projekt auf eine alte Erfindung zurück: die „Samisdat“-Tradition, übersetzt „Selbstverlag“. Aufgrund des repressiven Regimes zu Zeiten der Sowjetunion haben politisch Andersdenkende unter strengster Geheimhaltung regierungskritische Schriften verfasst, gedruckt und verteilt. László sagt: „So gerne wir Teil dieser Bewegung sind, lautet unser Motto: Wir arbeiten für unsere Abschaffung und hoffen, dass es bald keinen Bedarf mehr für ‚Nyomtass te is!‘ geben wird.“
Während die Aktivistinnen und Aktivisten der „Druck es selbst!“-Bewegung ihre freiwillige Arbeit nach den Wahlen gerne an den Nagel hängen würden, denkt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nicht ans Aufhören. Seit 2010 hält er am Regierungszepter fest und möchte am 3. April 2022 in seine fünfte Amtszeit gewählt werden. Für die Wiederwahl hat seine Partei bereits vor Jahren Vorkehrungen getroffen. Vor kurzem hat das Internationale Presse-Institut in Wien einen Bericht über den aktuellen Zustand der ungarischen Medienfreiheit veröffentlicht. Hierin halten die Fachleute fest: „Im Vorfeld der Parlamentswahlen 2022 hat die Fidesz-Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán ihre Bemühungen fortgesetzt, den Medienpluralismus systematisch zu untergraben, der verbleibenden unabhängigen Presse einen Maulkorb aufzuerlegen und den Markt zu manipulieren, um ein regierungsfreundliches Narrativ zu festigen.“ Das Institut bezeichnet das Maß an politischer Kontrolle über das ungarische Mediensystem als das „fortschrittlichste Modell der Medieneroberung, das jemals in der Europäischen Union entwickelt wurde“.
Der Bericht setzt fort:„Die ungarische Regierung hat ein regierungsfreundliches Medienkonglomerat, die Zentraleuropäische Presse- und Medien-Stiftung (KESMA), errichtet. Diese Stiftung umfasst über 500 verschiedene Medien und wird von ehemaligen Fidesz-Abgeordneten und Verbündeten des Ministerpräsidenten kontrolliert. Die Zentraleuropäische Presse- und Medien-Stiftung ist der dominierende Akteur im ungarischen Mediensystem. Sie dient aktiv dazu, die öffentliche Meinung zu formen und die Bürger vor kritischer Berichterstattung vor den Wahlen zu schützen.“
Mit ihrer Zweidrittelmehrheit konnten die Fidesz-Partei und ihr Koalitionspartner KDNP über jegliche Gesetzesänderungen im Parlament abstimmen und diese legal durchsetzen. Den geschrumpften, oppositionellen Parteien war es in den vergangenen zwölf Jahren nicht möglich, die weitreichende Umstrukturierung des Landes aufzuhalten. Die Übermacht der Regierung im Parlament ist auf ihre starke Wählerschaft auf dem Land zurückzuführen. Folglich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet die ländliche Bevölkerung mit den staatlichen Nachrichten am stärksten konfrontiert ist und die Regierungspropaganda bewusst oder unbewusst konsumiert.
Es ist der letzte Samstag im März, nur noch eine Woche bis zu den Parlamentswahlen. Eine große Gruppe von Freiwilligen trifft sich in Székesfehérvár, einer Stadt etwa 65 Kilometer von Budapest entfernt, um dem Medienimperialismus der Regierung ihre selbst gedruckte Zeitung mit objektiven und kritischen Nachrichten entgegenzusetzen. Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums werden die Kofferräume geöffnet, die Koordinatorin drückt routiniert die abgepackten Zeitungen in die Hände der Freiwilligen, diese laden sie in ihre Kofferräume oder auf die Hintersitze ihrer Fahrzeuge. Noch schnell ein Gruppenfoto mit allen Anwesenden und schon strömen sie in die umliegenden Dörfer aus.
Auf der Fahrt aus der Stadt säumen überlebensgroße Plakate der Orbán-Regierung die Straßen. Auf diesen Plakaten wird Péter Márki-Zay, der Kandidat der vereinten Opposition, verunglimpft. Die Regierung hat in der Wahlkampagne Lügen über ihn verbreitet. So behauptet sie unter anderem, dass Márki-Zay ungarische Soldaten in den Ukrainekrieg senden, illegale Einwanderer und Einwanderinnen ins Land lassen und die bei Rentnerinnen und Rentnern beliebte 13. Monatspension streichen möchte. Diese Schmutzkampagne hat einen enormen Schaden für die Opposition angerichtet. Folglich hat Márki-Zay eine Anzeige erstattet.
Regierung soll Wahlkampfbudget überschritten haben
Laut der Einschätzung einer Blitzerhebung der Nichtregierungsorganisationen Transparency Hungary, K-Monitor und Political Capital haben die Regierung und ihr nahestehenden Organisationen acht Mal so viel Geld für Wahlplakate ausgegeben als die Opposition. Die Regierung habe im März 12 171 Plakate und Poster im Wert von 3095 Millionen Forint (umgerechnet etwa 8,4 Millionen Euro) verbreitet, während es bei der vereinten Opposition nur 1564 Plakate im Wert von 390 Millionen Forint (etwa eine Million Euro) gewesen seien. Damit habe die Proregierungsseite die Obergrenze des Kampagnenbudgets etwa um das Dreifache überschritten und das Gesetz verletzt.
Von solchen unfairen Startbedingungen lässt sich die Gruppe um János Fehér nicht die Laune verderben. Sie sind seit sechs Monaten Teil der „Druck es selbst!“-Bewegung und engagieren sich auch für andere wohltätige Zwecke. Am Ortseingang hält der 74-jährige Fehér sein Auto an, steigt aus und verteilt die Zeitungen. Die vier Freiwilligen teilen sich in zwei Gruppen auf und ziehen schnellen Schrittes los. Trotz Knieschmerzen ist die ebenfalls 74-jährige Anna Fehérné so schnell unterwegs, dass ihr Ehemann sich sputen muss sie einzuholen.
Das Ehepaar ist zuerst im Neubaugebiet des Dorfs, im „Marmorgarten“, unterwegs. Viele Häuser sind hier neu entstanden oder werden gerade erst fertiggebaut. Vor manchen Häusern stehen neue BMWs, ein Mann bastelt in seinem Rennradoutfit an seinem Fahrrad. Mit einem Schmunzeln merkt Anna an: „Das sind wohl größtenteils Fidesz-Wähler, aber wir verteilen unsere Zeitungen selbstverständlich auch hier.“ Die Bewohner:innen nehmen die Zeitung an und keiner hinterfragt das zielstrebige Tun des Ehepaars.
Im Gegensatz zu den teuren Plakataktionen in den Städten, sind die Wahlplakate im Dorfidyll eine Mangelware. Das Fidesz-Kampagnenteam weiß, dass in den ländlichen Gebieten tagein, tagaus die staatlich gelenkten Medien die Meinungsbildung der Menschen übernehmen und stark zu ihren Gunsten beeinflussen.
Auf der Hauptstraße halten drei Männer im Alter von Viktor Orbán einen Plausch, als János ihnen die „Druck es selbst!“ reicht. Sie schauen fragend, fangen aber an, lauthals zu lachen, als sie die Karikatur auf der Vorderseite sehen: Wladimir Putin hält Viktor Orbán als Schoßhund, dieser leckt an seinem Zeigefinger.
Die Freiwilligen der Bewegung arbeiten nach dem Motto: „Wenn auch nur eine Person durch unsere Zeitung anfängt, kritisch zu denken und die vorgelegten Informationen zu hinterfragen, hat sich unsere Arbeit gelohnt“. An diesem Wahlsonntag wird sich zeigen, ob sie ihre eigene Abschaffung endlich erreicht haben oder ob sie weiter für eine unabhängige Berichterstattung kämpfen müssen.