Die Menschen, die blieben

Erschienen in: Frankfurter Rundschau, 11.01.2022, Magazin, S. 16-17, Download als PDF hier.

Stets der lustige Kellner mit viel Amore? Wer italienische Wurzeln hat, wird häufig in die immer gleichen Schubladen gesteckt. Wie sehen die wahren Geschichten aus? Autor Claudio Rizzello begibt sich auf Italienreise durch Deutschland.

Aylin Esposito traut sich kaum, Italienisch zu sprechen.

Diese Geschichte beginnt am 20. Dezember 1955, der deutsche Arbeitsminister schüttelt dem italienischen Außenminister die Hand. Eine Unterschrift, ein Abkommen, Millionen Leben, die sich verändern. Die Wirtschaft der noch jungen Bundesrepublik boomt. Italien, besonders der Süden, kämpft mit Arbeitslosigkeit. Viele Italiener steigen in der Heimat in die Züge und in Wolfsburg, Stuttgart oder Essen wieder aus. Sie malochen, jahrelang, für ihre Familien, für Deutschland. Nach getaner Arbeit würden sie wieder zurückreisen, dachten Politiker, in den Abkommen ist von einem Rotationsprinzip die Rede, andere sogenannte „Gastarbeiter“ sollen kommen. Doch diese Rechnung geht nicht auf. Warum? Der Schriftsteller Max Frisch traf es 1965 am besten: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Diese Menschen arbeiteten nicht nur hart, sie lebten auch, sie verliebten sich, sie blieben. Laut Statistischem Bundesamt lag die Zahl italienischstämmiger Bürgerinnen und Bürger in Deutschland 2019 bei etwa 873000.
Aylin Esposito, 25, sitzt in einem Restaurant in Reutlingen, schneidet ein Schnitzel und sagt, dass sie oft für eine Spanierin gehalten werde. Esposito, mit Betonung auf dem „i“, klingt spanisch, auf dem ersten „o“ italienisch. Sie spricht kaum Italienisch und manchmal, früher, machte sie das auch sauer. „Hättest du mich nicht zweisprachig aufziehen können?“, habe sie ihren Vater dann gefragt. Ihr Vater sagte dann, dass er es doch versucht habe, sie auf Italienisch gefragt hatte und Aylin mal bockig und auf Deutsch und mal gar nicht geantwortet hätte. So erzählt sie es nach. Sie traue sich bis heute nicht, Italienisch zu sprechen. Das Land, so wirkt es aus ihren Erzählungen, liegt ihr eher fern.

„Wenn ich mal in Italien im Urlaub war, war ich der Deutsche“

Als Kind besuchte sie einmal die Woche eine italienische Schule, wie viele Kinder mit italienischer Einwanderungsgeschichte. Und wie vielen anderen Kindern auch, hat es ihr wenig gebracht. Die meisten dort konnten schon ein bisschen Italienisch, Aylin nicht: „Das war für mich schlimm, ich war eine Außenseiterin.“ In den Urlaub nach Italien fuhr sie nicht so gerne, weil sie nichts verstanden habe: Müssen wir da schon wieder hin? Ihr Lieblingsort in Italien ist Südtirol. Als er 16 war, zog ihr Vater aus Sizilien nach Deutschland, arbeitete auf dem Bau. Er habe immer gewusst, dass er Deutsch lernen musste, erzählt die Tochter. In der Nähe von Reutlingen besuchte er nach der Arbeit die Abendschule. Mit 17 lernte er Aylin Espositos Mutter kennen, eine Deutsche. Er machte eine Ausbildung, heute ist er selbstständig, handelt mit Industriegütern, die Mutter arbeitet auch in der kleinen Firma. Esposito sagt, inzwischen komme ihr die Mutter italienischer vor als der Vater. Der Familie gehe es gut, mehrmals Urlaub im Jahr, ein eigenes Haus. „Das finde ich schon krass, wenn man sich so etwas aufbaut, von gar nichts zu alldem“ sagt Aylin Esposito und: „Nur weil man Italiener ist, muss man ja nicht eine Eisdiele oder ein Restaurant haben.“

Niels Zanotto will die italienische Gastronomie modernisieren.

Stellen Sie sich einen in Deutschland lebenden Menschen mit italienischer Einwanderungsgeschichte vor. Woran denken Sie? An den lustigen Kellner in Ihrem Lieblingsrestaurant? Nicht schlimm, Sie sind nicht allein. Aber Niels Zanotto, 22, regt das auf. Sein Vater führt ein Restaurant in Potsdam. Beide wollen ein neues, modernes Bild von Italien zeigen: „Mein Vater ist nicht dieser Luigi-Wirt, mit einer Schürze, die bis zum Boden reicht und einem gigantischen Pfefferstreuer in der Hand.“ Die Zanottos, Vater und Sohn, wollen ein Unternehmen gründen, moderne italienische Gastronomie. Die Idee: mit Italien-Klischees brechen. Bis tief in die Nacht hat Niels Zanotto am Geschäftsplan gefeilt. Buonaseeeera, Adriano Celentano singt, Pasta, die vor allem nach Knoblauch schmeckt, Amore, Tiramisù, Dolce Vita und zum Schluss noch einen Limoncello aufs Haus. Diese ganze Show, sagt Niels Zanotto bei einem Treffen im Sommer in Potsdam, kennen die deutschen Touristen aus dem Italienurlaub: „Das ärgert mich, denn das ist nicht das Italien, das ich kenne.“ Es decke sich nicht mit seinen Kindheitserinnerungen, als er, in NRW aufgewachsen, seinen Vater in der Region Veneto besuchte: „Für mich war Italien imposant und für die Leute, die ich in Deutschland kennen lernte, war Italien ein Gag.“ Früher, in seiner Kindheit in Düren, sei er bei seinem Nachnamen mit Italien konfrontiert worden. Keine Klischees, die schmerzen, jammern auf hohem Niveau, „aber trotzdem nervt es“. Verona, Mailand, Padua, Venedig, alles moderne Städte, sagt Zanotto, da leben moderne Leute, niemand brülle in der Bar herum. Das wollen die Zanottos in Deutschland verbreiten, „fast forward Italien“ nennt Niels es. Er reist nach Italien so oft er kann. Das Licht ist milder, sagt er, dann die Leute, schicker als hier, „eine psychedelische Erfahrung“. Er lebe gerne in Deutschland, aber wenn man sich so umgucke, in einem der reichsten Länder der Welt, denke er: Die Leute sind nicht happy. Dann wird das Gespräch abgebrochen: Es beginnt zu regnen.

Ein Telefongespräch: Antonio Di Salvo, 42, fährt gerade im Auto von München nach Paderborn. Er ist Trainer der deutschen U21-Nationalmannschaft, viel beschäftigt, viel unterwegs. Seine Eltern sind beide aus Süditalien nach Deutschland gekommen, 1970 war das. Es ging ihnen damals wirtschaftlich nicht so gut, erzählt Di Salvo. Aus dem warmen Sizilien ins kalte Paderborn. Dort wuchs er auf. Sein Vater, fußballbegeistert, steckte den Sohn in einen Fußballverein. Dort zählte dann nicht die Herkunft, sagt Di Salvo, der die doppelte Staatsbürgerschaft hat, sondern die Leistung. Wenn man sich seine aktuelle Mannschaft anschaue, haben mehr als die Hälfte der Spieler einen Migrationshintergrund. Dieser interessiere ihn. Er fragt seine Spieler: Wo sind deine Wurzeln? Was bringst du alles mit? Bei ihm sei der große Teil deutsch. Ihm ist passiert, was vielen Menschen mit Einwanderungsgeschichte widerfährt: „In Deutschland hieß es: Da spielt der Italiener. Und wenn ich mal in Italien im Urlaub war, war ich der Deutsche.“ Wenn man ihn auf seinen italienischen Namen anspreche und auf seine Herkunft, dann sei das okay. „Das sind nun mal meine Wurzeln und die Wurzeln meiner Eltern und da gibt es nichts, was mich nerven könnte.“ Es hätte alles auch anders kommen können in seinem Leben. Die Eltern hatten eigentlich vor zurückzugehen, als er in die Schule sollte, erzählt Di Salvo. „Das hat sich dann einfach nicht ergeben.“

„Bratwurst kommt genauso auf den Grill wie Salsiccia“

Heute sei bei seinen Eltern alles ein Mix aus italienisch und deutsch. Wenn die Enkelkinder zu Besuch sind, staunen sie, bei Nonna und Nonno ist es dann eben ein bisschen anders als bei Oma und Opa. „Aber das ist ja auch gut so!“, sagt Di Salvo. Wenn er so darüber nachdenke, wie die Eltern nach Deutschland gekommen sind, sich ein gutes Leben aufbauten und Freunde fanden, „dann sind das doch schöne Geschichten“. Di Salvo sagt, der Zugang zu Bildung und zu Vereinen sei das Allerwichtigste. Integration funktioniere am besten über Bildung und Sport.
Apropos Integration. „Ich finds richtig kacke, dass Mama und Papa bei der Bundestagswahl nicht wählen durften“, sagt die 22-jährige Sofia Caputo. Ihre Mutter kann da nur zustimmen: „Ja, das Thema tut schon weh, wir leben ja hier! Also ich lasse mich jetzt einbürgern.“

Das Ehepaar Bonaffini Caputo in seiner Pastamanufaktur in Saarbrücken.

Sophias Mutter Tina Bonaffini Caputo hat im Februar eine Pastamanufaktur in Saarbrücken eröffnet, im Laden stehen Tagliatelle neben Olivenöl und Gin aus Kalabrien. Marco Caputo, 46, ihr Mann, ist im Alter von vier Jahren nach Deutschland gekommen. Beide Eltern haben Wurzeln in Süditalien. Sie sprechen perfekt Deutsch, sind aber Italiener. Ihr Sohn Aurelio, 17*, geht zur Schule, die Tochter Sofia studiert Psychologie. Beide sprechen kaum Italienisch. In der Pastamanufaktur hat sich die ganze Familie versammelt. Es wird diskutiert.
Sofia: „Ich muss sagen, dass wir wirklich sehr auf die Familie achten. Das finde ich schön, aber hier in Deutschland leben alle individualistischer. Es tut mir dann auch leid, wenn ich hier im Laden zum Beispiel mal nicht helfen kann, Mama.“
Tina: „Wir wurden früher ja überhaupt nicht gefragt: Könntest du vielleicht helfen?“
Sofia: „Ich finde das auch richtig schlimm. Ich will dir ja helfen, aber dafür muss ich mein Leben zurückstecken und das will ich nicht. Das finde ich auch nicht egoistisch. Ich mach ja nicht nichts. Ich studiere, mache Praktikum, arbeite.“
Marco: „Ist das nicht eher ein Generationsthema als ein Nationalitätsthema?“
Aurelio: „Ich weigere mich eigentlich auch, hier zu helfen. Ich hab ja auch einen strammen Stundenplan.“
Sofia: „Ich glaube, meine Familie arbeitet viel zu viel.“
Marco: „Aber Italiener arbeiten doch nicht mehr als Deutsche!“
Sofia: „Aber Opa zum Beispiel musste sich alles hart erarbeiten, härter als andere Menschen, um das Restaurant zu eröffnen.“
Ein klassischer Gastarbeiter, mit Anfang 20 aus Sizilien gekommen, eröffnete der Opa, von dem Sofia Caputo spricht, eines der ersten Restaurants in der Gegend. Zu einer Zeit, als Italiener gelegentlich noch als „Spaghettifresser“ beschimpft wurden.
Aurelio: „Ich werde oft wegen meines Aussehens angesprochen, das finde ich aber nicht so schlimm, ich fühle mich komplett als Deutscher, bin hier geboren, aufgewachsen und gehe hier zur Schule.“
Marco: „Also ich habe gar keine Diskriminierung erlebt. Nie. Da haben sich die Bürger in Deutschland vorbildhaft verhalten, das war Integration par excellence.“
Tina: „Ich glaube, der Italiener hat in Deutschland gar keinen ausländischen Charakter.“
Sofia Caputo, die Tochter, sagt, sie wolle bald einen längeren Auslandsaufenthalt in Italien machen. Die Sprache lernen, um endlich besser mit ihren Großeltern reden zu können. Sie fühle sich nicht italienisch, aber auch nicht deutsch. Höchstens europäisch. Vielleicht hat Marco Caputo, der Vater, recht, wenn er sagt, dass es auch eine Generationenfrage sei. Italien, Deutschland, alles wandelt sich. Nur bei einem Thema sind sich auf dieser Italienreise durch Deutschland alle einig. Essen. Beim Essen merke Sofia Caputo am deutlichsten, dass sie etwas Italienisches an sich hat. „Da sage ich Freundinnen dann: Das können wir so nicht kochen, das geht einfach nicht.“
Aylin Esposito sagt, beim Essen sei auch sie italienisch, laut, quatsche manchmal einfach dazwischen.
Antonio Di Salvo: „Italien ist ein Teil von mir, die Familie, das Essen. Und ich möchte meinen Kindern auch ein Stück Italien mitgeben. Wenn bei uns Zuhause gegrillt wird, kommt die Bratwurst genau so auf den Grill wie die Salsiccia.“
Gastronom Niels Zanotto sagt, in Italien sind die Leute glücklich, weil sie wissen, was sie dort haben. „Das Meer vor der Tür, das Essen schmeckt.“ Kein Klischee.