Auf der Kanareninsel El Hierro treffen Fluchtrealität und Urlaubsidylle aufeinander. Rund 47 000 Menschen sind hier im vergangenen Jahr in kleinen Booten aus Westafrika angekommen. Das Dorf La Restinga zeigt sich solidarisch – aber wie lange noch?
Eine Reportage von Teresa Liesenfeld
Erschienen am 30.07.2025 in der Print-Ausgabe der Frankfurter Rundschau (PDF hier), auf fr.de am am 29.07.2025 (Link hier).

Manoel Solares, der eigentlich anders heißt, sitzt im Apartment mit Hafenblick. Doch von Urlaubsstimmung ist er weit entfernt. Draußen ist es dunkel, nur die Lichter der Hafenpromenade sind zu sehen. Er versucht zu entspannen, seit Tagen schon, doch die Anspannung bleibt. Ständig erwartet er, dass sein Handy klingeln, er gerufen werden könnte, um jetzt, eigentlich zur Schlafenszeit, auf das dunkle Meer hinauszufahren. Solares gehört der Crew der spanischen Seenotrettung an. Hier in La Restinga ist er für ein paar Wochen eingesetzt – und zählt die Tage bis zu seiner Abreise.
Nur ein paar Meter weiter ist die Terrasse der größten Bar des Dorfes, direkt an der Hafenpromenade, prall gefüllt. Gruppen junger Menschen sitzen um Tische voller Gläser und Bierflaschen. Die Musik ist laut. Eine Frau Anfang 30 versucht, beim Karaokesingen die Töne zu treffen. Ihre Stimme und der dumpfe Bass sind im ganzen Hafen zu hören. Im Hintergrund Rufe, Lacher, zwischendurch wird der Refrain von allen Seiten mitgesungen. Ältere Männer mit sonnengegerbter Haut sitzen vereinzelt auf Bänken und schauen in die dunkle Hafenbucht.
Es ist 22.45 Uhr, als Manoels Handy klingelt. Ein neues Boot wurde gesichtet, einige Meilen vor der Küste. Jetzt heißt es Schuhe anziehen und schnell los, zur Mole. Umziehen, rasch in die weißen Overalls schlüpfen, Helm an. Bis das orange Rettungsschiff der spanischen Seenotrettung den Hafen verlässt, dauert es nur Minuten. Denn jede Minute Verzögerung kann Leben kosten.
Eine Dreiviertelstunde später fährt das Rettungsboot wieder in den Hafen ein. Daneben, ganz dicht, gleitet ein winzig aussehendes Fischerboot. Cayucos werden sie hier genannt, bunte, meist offene Boote, mit denen normalerweise vor den Küsten Westafrikas gefischt wird. Köpfe sind aus der Mitte des Bootes zu sehen, 20, 30, viele. Ein paar Menschen sitzen auf dem Rand des Bootes, die Füße und Beine nach innen gestreckt. Flutlichter erhellen das dunkle Wasser an der Mole, ein Schein von Türkis, der das nächtliche Schwarz des umliegenden Wassers durchstreift. Vier Tage war das Cayuco auf dem Atlantik unterwegs, hat rund 1000 Kilometer zurückgelegt. Jetzt trennt es nur noch das knallorangene Rettungsboot der spanischen Seenotrettung vom europäischem Festland.
66 Menschen gehen in dieser Nacht von Bord. 62 Männer, 4 Frauen. 66 Einzelschicksale. 66 geglückte Überfahrten. Ein Mann ist so schwach, dass er mit einem Rollstuhl in einen der Container des Roten Kreuzes gebracht wird, die sich im Hafen aneinanderreihen. Ins Krankenhaus muss heute Nacht niemand. Während die schrillen Karaoke-Stimmen von der Hafenpromenade herüberschallen, können Solares und der Rest der Rettungscrew aufatmen. Wenigstens für den Moment.
Der schlimmste Ort zum Arbeiten
Hier in La Restinga, dem 500-Seelen-Dorf, sind im vergangenen Jahr die meisten der rund 47 000 Migrant:innen angekommen, die 2024 die Kanaren erreicht haben. 24 003 waren es laut der spanische Nachrichtenagentur EFE, die die Daten von Gesundheitsdiensten, Notfalldiensten und staatlichen Behörden ausgewertet hat. Sie kommen in diesen kleinen Fischerbooten, dicht gedrängt, die meisten von ihnen stammen aus Gambia, Mali, Mauretanien, Senegal, aus Guinea-Bissau und Guinea. Je nachdem, woher sie kommen, wie der Wind steht, wie ruhig oder unruhig das Meer ist, kann so eine Überfahrt zwischen vier und vierzehn Tagen dauern. Tage, in denen das Boot im Gleichgewicht bleiben muss, auch bei hohen Wellen. Die sind im schlechtesten Fall bis zu vier Meter hoch. Schon kleine Gewichtsverlagerungen können das Boot zum Kentern bringen. Tage, in denen sich die Insassen nicht bewegen können.
Dicht an dicht gedrängt sitzen sie hier, Unbekannte verschiedener Nationen, Regionen und Religionen. Viele fliehen vor regionalen Konflikten in ihren Heimatländern, Bürgerkriegen, politischer Verfolgung, Repression. Andere davor, keine Zukunftsperspektive zu haben. Viele Cayucos werden nie europäischen Boden erreichen. Sie gehen verloren, treiben auf dem offenen Ozean herum und tauchen manchmal wieder auf, etwa vor der Küste Brasiliens. Leer.
Neu ist die Route nicht, anders als in manchen Berichten zu lesen ist. Denn schon vor 31 Jahren kamen die ersten Boote auf den Kanaren an. So viele Menschen wie seit 2020 sind aber noch nie über diese Route gekommen. Manchmal, wenn die Überfahrt länger dauert als erhofft, reicht der Wasservorrat nicht, erzählt Alejandro Fariña Fleitas, Kapitän des Rettungsschiffs. „Wenn sie Salzwasser trinken, dann drehen sie durch. Wenn wir dann mit dem Rettungsboot ankommen, wollen sie alle auf einmal da rein. Und dann kann es passieren, dass die Schwächsten im Boot zertreten werden, dass sie im Wasser, das am Boden des Fischerbootes steht, ertrinken.“
