Grenzenlose Unsicherheit

Erschienen in: Frankfurter Rundschau, 27.09.2017, S. 20-21, Download als PDF hier.

Der Nordirlandkonflikt ist Geschichte, die Wirtschaft brummt. Doch mit dem Brexit kommt die Angst vor einer Rezession und dem Aufbrechen alter Konflikte. Eine Reise entlang der irischen Grenze, die bald zur EU-Außengrenze wird.
Von Gerd Schild

Links die Republik Irland, rechts das Vereinigte Königreich, unten der Blackwater River. Links wie rechts der Burns Bridge riecht es nach frisch gemähtem Gras, das grün aussieht wie in einer Butterwerbung. Hier und da steht ein Herrenhaus in der hügeligen Landschaft, mit langer Auffahrt und den imposant großen Mauern, die die Menschen auf beiden Seiten der Grenze zu lieben scheinen. Eoghan Cross nähert sich mit seinem weißen Kastenwagen. Der junge Mann steigt aus, eine gelbe Warnweste über dem grün-weißen Ringelshirt, schreitet in dunklen Gummistiefeln auf die Brücke zu und lässt dort einen Eimer an einem Seil hinunter. Cross sammelt für die Umweltbehörde Nordirlands Wasserproben. Das Projekt wird mit EU-Mitteln finanziert, wie  so vieles hier im Borderland, im Gebiet auf beiden Seiten der irischen Grenze. Noch. Eoghan Cross, 25, lebt in Nordirland und spielt im Süden Gaelic Football. Er hat Freunde hier und dort und sowohl einen irischen als auch einen britischen Pass. Seine Generation ist ein friedliches Leben gewohnt. Die Wachtürme im Borderland sind verschwunden, die  Camps der britischen Armee auch. Der Nordirlandkonflikt ist Geschichte, die Wirtschaft brummt wieder. Etwa 30 000 Menschen überqueren wie Cross die Grenze jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit. Zehntausende weitere kaufen auf der anderen Seite ein, tanken, studieren, gehen zum Arzt oder führen den Hund spazieren über eine unsichtbare Grenze.

Für offene Grenzen: Künstlerin Aleks Stanek (Mitte) läuft in einer Woche 360 Kilometer von Muff am nordwestlichen Ende der Grenze bis nach Warrenpoint im Osten. Foto: Gerd Schild

Der Grenzverkehr könnte sich dramatisch verändern, wenn im Frühjahr 2019 die unsichtbare Grenze zur realen Außengrenze der Europäischen Union wird. Niemand weiß, ob die Straße über die Burns Bridge in zwei Jahren noch offen sein wird. „Ich mache mir Sorgen“, sagt Eoghan Cross, und streicht sich mit der Hand durchs kurze rote Haar. Er fürchtet um den Umweltschutz und damit auch um seinen Job. Der EU-Ausstieg könnte die Wirtschaft des britischen Nordens schwächen, Unternehmen aus Nordirland vertreiben und die Regierung in London dazu bewegen, Umweltauflagen aufzuweichen. „London spielt mit unserer Zukunft“, sagt Cross. Er sieht viele Existenzen bedroht. Und wenn Menschen ihre Hypotheken nicht zahlen können, dann werden sie offener für extreme Ideen, glaubt Cross. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier wieder Gewalt gibt – aber ich konnte mir auch den Brexit nicht vorstellen“, sagt er. Die Folgen sind täglich Thema auf dem Sportplatz, im Pub, bei der Arbeit. „Wäre das doch bloß vor dem Referendum auch so gewesen“, sagt Cross. Vielleicht wäre es dann nie dazu gekommen.

Fhere Gegner sind Nachbarn und Kollegen. Man versteht sich

Die Angst vor Gewalt, wer kann sie den Menschen in Irland verdenken. Gewalt zieht sich durch die Geschichte der katholisch geprägten Insel. Jahrhundertelang kämpften die Engländer um Einfluss, die Iren dagegen. Als London im 17. Jahrhundert protestantische Farmer im Norden Irlands ansiedelte, um seinen Anspruch auf den Nachbarn buchstäblich im Boden zu verankern, legte England damit einen Grundstein für den Bürgerkrieg zwischen Republikanern und londontreuen Unionisten. Der Konflikt eskalierte 1969, etwa 3000 Menschen starben während der „Troubles“, wie die Phase verharmlosend genannt wird. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 herrscht Frieden.
Noch heute kann fast jeder Bewohner von Borderland eine brutale Geschichte aus der eigenen Familie erzählen. Die meisten Kämpfer von einst sind heute Zivilisten – Helden für die einen, Mörder für die anderen. Frühere Gegner sind Nachbarn und Kollegen. Man kommt miteinander aus, aber nicht alles ist vergessen. Noch immer gibt es Menschen, die sich als Teil einer IRA sehen oder auf der anderen Seite für ein britisches Nordirland kämpfen würden.

Caitilin Dohertys Großvater Patrick

„Paddy“ Doherty gehörte zur Bürgerrechtsbewegung in Derry, das die Briten Londonderry nennen. Die Aktivisten protestierten für eine Gleichstellung der katholischen Minderheit im Norden und gegen die Besatzung durch die britische Armee. Am 30. Januar 1972, dem Bloody Sunday, wurde er von einem britischen Soldaten erschossen. Caitilin Doherty weiß aus Geschichtsbüchern mehr über ihren Großvater als aus Erzählungen ihrer Familie. Abscheulich findet die Enkelin es, dass der Soldat, sie nennt ihn Mörder, nicht verurteilt, sondern von der Queen belobigt wurde. „Meine Familie leidet lebenslangen Kummer“, sagt Doherty. Ihr Vater erzählte ihr, dass er bei Bewerbungsgesprächen oft nur drei Sätze hörte: „Wie ist Ihr Name? Wo sind Sie zur Schule gegangen? Da ist die Tür!“ Man hatte ihn als Katholik erkannt, und als solcher habe er bei den meisten Protestanten keine Chance gehabt.
Die 20-jährige Caitilin Doherty ist vor kurzem von Derry in die Metropole Belfast gezogen. Die Frau mit den langen blonden Haaren arbeitet als Barkeeperin im Chinawhite, einem Club im Zentrum der Stadt, finanziert sich damit das Studium der Soziologie und Kriminologie. „Die Mauern und die Märsche in der Stadt haben mir erst gezeigt, wie viele Spannungen es hier noch gibt“, sagt Doherty. Sie wohnt in einer Straße mit einer sogenannten Peace Wall. Diese „Friedenswände“, gemauert oder aus Metall, trennen die Wohngebiete von pro-irischen Republikanern und pro-britischen Unionisten. Die Wände sollen Übergriffe verhindern. Sie sind keine Relikte aus vergessenen Tagen, nein, in Belfast wurden viele erst nach dem Friedensabkommen gebaut.
Caitilin Doherty fürchtet neue Gewalt, wenn auch nicht so heftig wie während der „Troubles“. Sie glaubt, dass erst dann viele junge Menschen gegen den Brexit auf die Straße gehen, wenn sie merken, dass ihre Zukunft, ihre Jobs und Reisefreiheit konkret bedroht werden: „Dann wird es einen riesigen Protest geben.“
Pitsch, pitsch, pitsch. Kleine Plastikkugeln schießen aus großen Plastikgewehren, hinterlassen orangefarbene Kleckse auf Camouflage-Muster. Junge Männer schreien, jubeln, lachen. Vor 20 Jahren standen hier statt der Paintball-Spieler echte Soldaten mit echter Munition. Camera Mountain, so nannten die Anwohner diesen Hügel in der Nähe der Stadt Newry, weil man sicher sein konnte, immer im Fokus der britischen Armee zu sein. Watchtower, Wachtürme aus Stahl, standen auf fast jedem Hügel im Grenzgebiet. Die Armee sollte den britischen Anspruch auf den Norden sichern.

Unter den Landwirten gab es besonders viele Brexit-Unterstützer

Aus dem Militärgebiet ist ein Freizeitpark für Hobbysoldaten geworden. Mark Rice, 29, gehört „Watchtower Adventures“. In einem roten Kapuzenpullover steht er vor einer Reihe mit Tarnmusteranzügen und schaut grimmig auf ein Gewehr in seinen Händen. „Keine Angst“, sagt er, das sei nur für Tontauben und ohnehin kaputt. Rice betont, er habe selten Gäste, die versuchen, Geschichte nachzuspielen. „Das ist Vergangenheit, und die kommt nicht zurück“, sagt er. „Watchtower Adventures“ – der Name sei ein Spaß, und er sei froh, dass er darüber scherzen kann. Rice kann sich noch an die Soldaten erinnern. Er war ein kleiner Junge, sie taten ihm nichts. Aber die Belagerung, die dauerpräsenten Hubschrauber in der Luft, die Soldaten im Vorgarten, die Angst der Alten – all das hat Rice nicht vergessen. Er geht ein paar Schritte nach draußen, die Flinte in der Hand.

Mark Rice gehört der Freizeitpark „Watchtower Adventures“. Foto: Gerd Schild

Schwarzer Rauch quillt aus einem Schornstein im Nebengebäude. Es riecht nach Kohle, mit der auf der Insel noch so viele Öfen und Kochstellen befeuert werden. Mit dem Gewehrlauf zeigt Rice in die Landschaft, damit der Besucher leichter sehen kann, wo überall Grenzübergänge entstehen müssten mit einer harten Grenze. „Dort, dort, dort, dort und dort“, sagt Rice, und schüttelt den Kopf. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das zurückkommen soll.“

Wer durch den nördlichen Teil vom Borderland reist, der trifft überwiegend auf Menschen, die gegen den Brexit gestimmt haben. Und auf einige, die zwar dafür gestimmt haben, es aber heute anders machen würden. Unter den Landwirten Nordirlands gab es besonders viele Brexit-Unterstützer. Auf der irischen Insel geht man auch noch mit 50 als junger Farmer durch. Der Altersdurchschnitt ist also hoch beim Ulster Farmers Mart, dem Viehmarkt von Enniskillen, 20 Kilometer von der Grenze zur Republik entfernt. Regen nieselt auf ein paar Schafe mit den aufgesprühten pinken Farbpunkten, die gerade von einem Anhänger getrieben werden, Blöken überall. Denzil Brady ist Mitte 80, er arbeitet auf der Familienfarm im Norden, seit er denken kann. Von Brüssel hält er nicht so viel. „Skrupellos“ nennt er die EU-Beamten, das hat er neulich der BBC erzählt, das wiederholt er gerne. Denn er sorgt sich um seine Kollegen. „Ich weiß nicht, wie die jungen Farmer das schaffen sollen“, sagt er, und zieht sich die braune Schlägermütze zurecht. Der ganze Papierkram belaste gerade die Kleinbauern so sehr, dass viele aufgeben. Wie Brady hoffen hier im Norden viele Farmer, dass London Wort hält und die EU-Subventionen ersetzt, ohne die hier viele Betriebe nicht existieren können. Viehmarktleiter James Johnston, Anfang 30, kann die EU-Gegner verstehen. „Das ist ein undemokratisches System“, sagt er. Die Grundidee sei gut, die Regulierungen aber ein Riesenproblem für Landwirte. Nach dem Brexit müsse die offene Grenze zum Süden bestehen bleiben, ja eher noch weiter geöffnet werden, fordert Johnston. Denn der Handel über die nahe Grenze mit Tieren sei schwierig, unterschiedliche Regeln auf beiden Seiten machten es leichter, Ware aus Nordirland nach Schottland zu liefern als ein paar Meilen die Straße runter.
Im Örtchen Pettigo zerbombten während der „Troubles“ protestantische und republikanische Kämpfer die Häuser der anderen, heute trinkt man zusammen im Pettigo Inn. Draußen sind es nasskalte 12 Grad an diesem Sommerabend in diesem Dorf 20 Kilometer vom Atlantik entfernt im Westen der Insel, drinnen riecht es nach Malz und Hopfen, in der Ecke knistert das Feuer im schwarzen Kaminofen. Das Bier bezahlt man hier in Euro, der Großteil des Ortes liegt in der Republik, die der Grenzfluss Termon vom Norden trennt. Weil es aber so viele Brücken gibt, hat sich niemand mehr die Mühe gemacht, überall die Verkehrsschilder aufzustellen, die die zulässige Höchstgeschwindigkeit in Meilen oder Kilometer pro Stunde anzeigen.
Steve sitzt am Holztresen. Er muss gleich noch mit dem Lkw weiter und hat schon ein Guinness getrunken, deswegen will er nur seinen Vornamen verraten. Steve ist 27, wohnt in der Republik und überquert die Grenze jeden Tag. Er trägt Dreitagebart, die Baseballkappe hat er tief ins Gesicht gezogen, räuspert sich kurz, schaut zu den drei älteren Männern neben ihm in ihren abgewetzten Hemden und sagt dann leise: „Die Schmuggler freuen sich schon auf eine harte Grenze.“ Schon heute ist der Dieselschmuggel eine Industrie im Borderland. Mit einer EU-Außengrenze könnten die Schmuggler mächtig expandieren. Als Lkw-Fahrer hätte Steve gute Jobchancen im Schmuggel, die Kontakte habe er, man kenne sich eben. Wäre das eine Alternative für Steve? Er überlegt lange. „Sagen wir es mal so: Ich hoffe, dass der Brexit nur furchtbar wird, nicht total furchtbar“, sagt er.

Bewegungsfreiheit ist ein Menschenrecht“, sagt Aleks Stanek

Mit seinem Vater, wie er Lkw-Fahrer, spricht er jetzt oft über die Zeit der harten Grenze, an der die Fahrer lange warten mussten, bis die Uniformierten von Armee und Zoll ihre Kontrollen erledigt hatten. Solche Grenzen könnten Milliarden kosten, die Wirtschaft von Norden und Süden ist heute eng verwachsen. „Wir müssen ausbaden, was die verdammten Briten vermasselt haben“, sagt Steve. Er durfte im Süden nicht über den EU-Austritt abstimmen, und im Norden war eine deutliche Mehrheit für den Verbleib.
Aleks Stanek steht an der Grenze bei Crossmaglen, im Osten der Insel. „Bewegungsfreiheit ist ein Menschenrecht“, sagt Stanek. Der Stopp ist Ruhepause eines anstrengenden Kunstprojekts: Stanek, 22, Künstlerin aus Belfast, läuft in einer Woche 360 Kilometer – mehr als einen Marathon pro Tag, von Muff am nordwestlichen Ende der Grenze bis nach Warren-point im Osten. Die Strecke führt sie nicht an der ganzen Grenze mit ihren knapp 500 Kilometern entlang, aber 17 Mal darüber hinweg. An den Grenzpunkten hinterlässt die Künstlerin roten Ziegelbruch, Symbol für den Niedergang alter Industrien und Eschensamen, für Stanek ein Bild für echte Grenzen und die in den Köpfen.
Stanek wurde im polnischen Danzig geboren, lebt seit vielen Jahren in Nordirland. Nach dem Brexit-Schock folgten bei ihr Sorge und Wut über die Lethargie im Land. „Ich will zeigen, dass man etwas machen kann“, sagt Stanek. Sie hat auf der Strecke viele Menschen getroffen, die sich gegen den Brexit engagieren wollen, aber nicht so richtig wissen, wie. Die Jungen können sich eine Grenze gar nicht vorstellen, die Alten wollen sie sich nicht vorstellen. Die Bewohner im Borderland eint die Angst, dass die britischen Brexit-Unterhändler entweder Dilettanten sind – oder mit der harten Grenze pokern, die die EU doch unbedingt verhindern will.
Aleks Stanek hat ihren Lauf „In Search of the Miraculous“ genannt. Sucht sie nun das Wunder oder das Wunderbare? „Es ist wunderbar, dass ich einfach über diese Grenze laufen kann“, sagt Stanek. Das Wunder, es wäre wohl ein Brexit ohne Folgen.